In der dritten Seligpreisung, in welcher Jesus den Sanftmütigen, den praeis, πραεις, verspricht, "sie werden das Erdreich besitzen" gibt es eine wichtige Brücke hinüber ins Alte Testament. Jesus zitiert hier ganz wörtlich eine Stelle aus Psalm 37,11. Benedikt nutzt die sprachliche Brücke vom Griechischen ins Hebräische um einen weiten Bogen zu schlagen, der fast das ganze Alte Testament umfaßt.
Das im Psalm gebrauchte hebräische Wort anawim, ענוים, hat eine Bedeutung, die weit über "Sanftmütige" hinausgeht. Mein hebräisches Lexikon (Gesenius) führt es auf den Stamm anah , ענה, zurück, was "niedergedrückt sein" oder "gebeugt sein" bedeuten kann, oder auch "leiden". Die anawim lassen den Willen eines Anderen über sich gelten, gezwungenermaßen in den meisten Fällen, muß man vermuten, und unter Schmerzen.
Auch Mose war ein solcher gebeugter, sanftmütiger Mann. Das mag den verwundern, der von Mose als von einem aufbrausenden Choleriker gehört hat. Die Bibel charakterisiert ihn an einer prominenten Stelle auf ganz andere Weise. Benedikt, der nicht müde wird, auf die Parallelen zwischen Mose und Jesus hinzuweisen, entnimmt dieser Geschichte, in der sich die Verwandten von Mose, sein Bruder Aaron und seine Schwester Mirjam, gegen seine Führung auflehnen, die Aussage, daß Mose "ein überaus sanftmütiger Mann" war, "sanftmütiger (milder) als alle Menschen auf der Erde" (4. Mose 12, im Buch zitiert auf Seite 110).
Von Mose schlägt Benedikt einen Bogen zur Prophezeiung des endzeitlichen Königs im Buch des Propheten Sacharja (dort im Kapitel 9,9). Von diesem König wird gesagt, er ist "sanftmütig und reitet auf einem Esel", also auf dem Reittier der armen Leute. Dieser König betritt nun, sagt Benedikt, in der Gestalt Jesu die Erde. Und Jesus sagt im Bewußtsein, dieser König zu sein, konsequenterweise von sich selbst "nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen" (Matt. 11,29). Seine demütige Grundeinstellung ist ein königliches Attribut, ein äußeres Kennzeichen des Friedensfürsten, welcher der ganzen Welt "von Meer zu Meer" Frieden schenken wird.
Die Stärke dieses Buches sind die großen Bögen, die Benedikt in der Verfolgung eines einzigen Begriffes, eines einzigen Gedankens durch die ganze Bibel hindurch schlagen kann. Wenn man die langen Wege mitgeht, die Benedikt zurücklegt, hier etwa entlang der Worte πραεις und ענוים, gerät man am Ende fast wie von selbst in den Bann seiner Gedanken und wird bereit, seiner Schlußfolgerung zuzustimmen: in Jesus begegnet uns Gott.
Dienstag, 1. Mai 2007
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